Braucht der Mensch Erzählungen, wie sie ihm etwa die Mythologie oder die Bibel bieten? Oder Geschichten aus der Vorstellungswelt einfallsreicher Literaten, Romanciers oder Dichter? Verlangen wir nach Büchern, die uns mit den Erfahrungen anderer konfrontieren? Neuen, andersartigen, aufregenden, wundersamen? Kaum jemand wird dies verneinen. Auch heute gilt. Der Mensch ist auf Narrative angewiesen, mit deren Hilfe er eine eigene Lebenswelt verarbeitet und sich darin Orientierung verschafft.
Das Hier und Jetzt genügt ihm nicht. Es drängt ihn stets, aus der aktuellen Lebenswelt auszubrechen, sein Horizont zu erweitern, sich in fremde und örtlich und zeitlich ferne Sphären zu versetzen, Taten, Ereignisse, Entdeckungen, spannungsgeladene Situationen, auch Menschheitstragödien mitzuerleben. Die Chance dazu hat sich bereits in Urzeiten durch die Entdeckung der Schriftlichkeit ergeben, da sie Anstoß gab, die Literatur allmählich in allen ihren Formen auszuprägen. Man hat darin »eine kulturelle Revolution« (E.A. Havelock, 1982) erkannt.
Im abendländischen Kulturkreis waren es zu allererst die Griechen, denen die Schrift zu großen Leistungen verhalf. Dichtung, Geschichte und Philosophie wurden zu Bewährungsfeldern großer Denker. Sie haben darin Werke geschaffen, deren Wirkmächtigkeit über alle Zeiten hin fortdauert. Sie bieten Erzählungen und regen stets Spätere zu Abwandlungen des Erzählten an. So ist die große Tradition von europäischer Literatur, auch von Weltliteratur entstanden.
Heute allerdings fragt man sich: Bedarf es überhaupt solcher Literatur noch, solcher Erzählungen über einstige Ereignisse, über fremde Lebens- und Weltbilder? Angesichts der Medien, mit denen die digitale Revolution gerade die Heranwachsenden in ihren magischen Bann zieht. Mit dem Ansporn »Zurück zur Literatur« (Gerd Ürding, 2017) will man gegen den Trend angehen. Auch dieses Buch will durch Auswahl und Interpretation von wirkmächtigen Texten der griechischen und lateinischen Dichtung die Geisteswelt der Antike in Erzählungen vermitteln, die anregen, unterhalten, nachdenkich stimmen, die Welt und Leben in einem weiteren Horizont erleben lassen. Gegen die Macht der digitalen Instrumente und KI-Maschinen sei hier die Kultur der Dichter gestellt. Es gilt, was Sulman Rushdie kürzlich gesagt hat (»Mythenerfindung« in SZ v. 11.9.23): »Das letzte Wort haben nicht die Mächtigen, das letzte Wort haben die Erzähler.«